Aus den Fachausschüssen / Informations des Commissions spécialisées Anwaltsrecht (VINCENZO AMBERG)
Früher zeigte eine weisse Fahne auf einem Gefängnisgebäude an, dass (glücklicherweise) keine Missetäter einsitzen, mit anderen Worten, dass in der Ortschaft alles seinen geordneten Gang nimmt. Bezogen auf unser Berufs- und Standesrecht nahm anscheinend auch alles seinen geordneten Gang; weder grundsätzliche noch wesentliche anwaltsrechtliche Fragen wurden im abgelaufenen Jahr dem Fachausschuss zur Beratung und/ oder Meinungsäusserung unterbreitet, weshalb – wohl erstmals seit Bestehen des Fachausschusses – im letzten Jahr keine Veranlassung bestand, eine Sitzung anzuberaumen.
Diese Tatsache gibt dem Berichterstatter die Möglichkeit, einen Blick über die Grenzen zu werfen und über den Stand der Diskussionen betreffend die Revision des europäischen Standesrechts zu informieren.
Der CCBE (Conseil des barreaux européens, Rat der europäischen Anwaltschaften) wurde 1960 gegründet und vertritt heute die Interessen von über einer Million Anwältinnen und Anwälte im (erweiterten) europäischen Raum. Im Jahre 1988 setzte der CCBE seine Standesregeln, welche seither drei Mal in einigen Punkten revidiert wurden, in Kraft. Beizufügen gilt es in diesem Zusammenhang, dass jeder nationale Anwaltsverband, welcher dem CCBE beitreten will, sich verpflichten muss, die europäischen Standesregeln anzuwenden. Diese Verpflichtung ging auch der SAV (mit Zustimmung aller kantonaler Anwaltsverbände) ein, als er 1991 dem CCBE beitrat.
Des Weiteren nahm der CCBE 2006 eine sogenannte Charta an, welche zehn wichtige und unabdingbare Grundsätze zur Ausübung des Anwaltsberufs im europäischen Raum, wie beispielsweise die Unabhängigkeit und das Berufsgeheimnis, beinhaltet.
Der Fachausschuss Berufs- und Standesrecht des CCBE musste nun seit Längerem feststellen, dass wohl die überwiegende Mehrheit der nationalen Verbände, aber – aus verschiedenen hier nicht weiter auszubreitenden rechtlichen Gründen – eben nicht alle, die europäischen Standesregeln auf nationaler Ebene anwenden. Aus diesem Grunde und um diese unbefriedigende Situation zu ändern, wurde der Fachausschuss damit beauftragt, Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Nach langen Diskussionen erwägt das erwähnte Gremium nun folgende Vorgehensweise:
1. Die Charta, beinhaltend die zehn Grundsätze zur Ausübung des Anwaltsberufs, soll unverändert beibehalten werden.
2. Die bestehenden Standesregeln sollen revidiert werden und nur noch Bestimmungen standesrechtlicher Natur enthalten, welche die grenzüberschreitende Anwaltstätigkeit betreffen; sie sind obligatorisch von allen Mitgliedern anzuwenden.
3. Schliesslich sollen zuhanden der nationalen Anwaltschaften zeitgemässe und umfassende Standesregeln mit Modellcharakter ausgearbeitet werden verbunden mit der Empfehlung, sie auf nationaler Ebene zur Anwendung zu bringen.
An der letzten Delegiertenversammlung des CCBE im Herbst letzten Jahres wurde dieses Vorgehen nun gutgeheissen.
Die nicht ganz leichte Aufgabe des Fachausschusses wird es in den nächsten Monaten sein, die zum Teil auch in grundsätzlichen Aspekten divergierenden (nationalen) Standpunkte auf einen allseits akzeptierbaren Nenner zu bringen und entsprechende Satzungen auszuarbeiten. Bei all den bisher diesbezüglich geführten Diskussionen und Auseinandersetzungen wurde offenkundig, dass Probleme und Problemlösungen auf europäischer Ebene in nicht wenigen Bereichen den hiesigen Problemen und Problemlösungen ähnlich sind.